In eigener Sache
Stuttgart
18.07.18

LEUCHTLINIE - An der Seite Betroffener von rechter Gewalt

Bericht über die Beratungsarbeit im Jahr 2017

Das Beratungsangebot von LEUCHTLINIE richtet sich an Betroffene von rechter Gewalt in Baden-Württemberg. Dass dieses Angebot auch 2017 gebraucht wurde, ist angesichts der akutellen gesellschaftlichen Entwicklungen leider nicht überraschend: Wir erleben das Erstarken von Rechtspopulismus, die Abwertung ganzer Gruppen von Menschen nimmt zu, Ausgrenzungsideologien gegen „die Muslime“, „die Flüchtlinge“ sind en vogue. Pauschalisierende, abwertende Haltungen und Einstellungen sind sichtbarer und hörbarer als noch vor wenigen Jahren. Das wurde auch in den Fällen sichtbar, die LEUCHTLINIE 2017 bearbeitete.

Im Jahr 2017 ging das LEUCHTLINIE-Team insgesamt 173 Vorfällen nach. Auf 125 dieser Vorfälle wurden wir über unsere Medienrecherchen aufmerksam und versuchten Kontakt zu den Betroffenen aufzunehmen. In den anderen 48 Vorfällen wurden wir über unsere Webseite, E-Mail, Telefon kontaktiert oder wir wurden direkt persönlich angesprochen.

Die Einschätzung, ob die Betroffenen Opfer einer rechten Gewalttat wurden, basierte einerseits auf einer Einschätzung der Tatmotive und andererseits auf Hinweisen zur rechten Gesinnung der Täter_innen.

Zu den Tatmotiven: Rechte Gewalt richtet sich gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen, die pauschal abgelehnt werden (gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit; GMF). Ob die Gewalttaten rechtsmotiviert waren, wurde anhand der Zugehörigkeiten der Betroffenen, ihrer Einschätzung zur Tatmotivation und Äußerungen der Täter_innen eingeschätzt. Von den 173 Vorfällen schätzten wir 120 als GMF motiviert ein, 16 als nicht GMF motiviert und bei 37 blieb dies unklar. Von den 120 GMF motivierten Vorfällen hatten – nach den uns vorliegenden Angaben –  70 einen fremdenfeindlichen, rassistischen oder muslimfeindlichen Hintergrund. 22 der Vorfälle richteten sich gegen politisch Andersdenkende, 15 der Vorfälle richteten sich gegen Personen auf Grund ihrer Rolle oder Funktion (z.B. Zeug_innen). Andere Tatmotive, mit denen wir vereinzelt konfrontiert waren, waren Ablehnung von Menschen mit Behinderungen, von obdachlosen oder sozial benachteiligten Menschen, Menschen jüdischen Glaubens, Ablehnung von Sinti und Roma, homo- und transsexuellen Menschen sowie Sexismus als Tatmotiv.

Hinweise zur rechten Gesinnung der Täter_innen lagen in 77 der Vorfälle vor, das waren überwiegend Äußerungen der Täter_innen, das Tragen oder das Anbringen „rechter“ Symbole oder es war die Zugehörigkeit der Täter_innen zur rechten Szene bekannt.

Hinweise darauf, dass eine Gewalttat rechtsmotiviert war oder von Täter_innen mit rechter Gesinnung verübt wurde, lagen bei insgesamt 122 Vorfällen vor. Die Gewalttaten, die in diesen Fällen begangen wurden, stuften wir ein als Körperverletzungen (36 Vorfälle), Beleidigungen (36 Vorfälle), Sachbeschädigungen (30 Vorfälle), Bedrohungen/Nötigungen (23 Vorfälle), Diskriminierungen nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzt (AGG, 9 Vorfälle), Brandstiftungen (4 Vorfälle), versuchte Körperverletzungen (2 Vorfälle), versuchte Tötung (2 Vorfälle), Tötung (2 Vorfälle).

2017 haben wir insgesamt 87 Menschen beraten (43 davon weiblich, 42 männlich, 2 Personen unbekannten Geschlechts). Darunter waren 2 Kinder, 10 Jugendliche, 8 junge Erwachsene (bis 27), 48 Erwachsene über 27 im Erwerbsalter und 1 Senior_in. Das Alter von 14 beratenen Personen war uns nicht bekannt. Die Anliegen der Betroffenen waren sehr unterschiedlich. Sie wollten beispielsweise das Geschehene psychisch besser verarbeiten, Kraft schöpfen, Unterstützung beim Zurechtfinden im Hilfenetzwerk oder bei rechtlichen Fragen, eine Einordnung und Klärung des Geschehenen erreichen, gesellschaftliche Missstände sichtbar machen oder gesellschaftliche bzw. politische Veränderungen bewirken.

Auch im Jahr 2017 unterstütze der LEUCHTLINIE-Beirat die Arbeit der Beratungsstelle für Betroffenen von rechter Gewalt in Baden-Württemberg durch fachliche Begleitung. Als Organisationen und Initiativen sind in diesem Beirat vertreten: der  Flüchtlingsrat BW, der Verband Deutscher Sinti und Roma, die Initiative Schwarzer Menschen, die Islamische Glaubensgemeinschaft in Baden-Württemberg e.V., der Landesfrauenrat, die Israelitische Religionsgemeinschaft Württemberg, die Liga der freien Wohlfahrtspflege, das Landesnetzwerk LSBTTIQ, der Landesverband für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung Baden-Württemberg e.V., der Landesverband der kommunalen Migrantenvertretungen Baden-Württemberg und das Büro und Aktionsnetzwerk der Vielfalt.

Sie alle setzen sich ein für ein friedliches Miteinander, für Toleranz und Offenheit in unserer Gemeinschaft. Und gleichzeitig vertreten sie eben auch jene gesellschaftlichen Gruppen, die von rechter Gewalt in besonderem Maße bedroht und betroffen sind. Und: sie gehören zu den Bevölkerungsgruppen, die aufgrund der aktuellen Wahlergebnisse und rechtspopulistischen Entwicklungen große Sorgen haben. Diese Tatsache wurde bei den Sitzungen des Beirates sehr deutlich formuliert. Es sind Sorgen vor einer Zunahme von offener Diskriminierung, von Islamophobie, von Rassismus, der Verrohung des Umgangstons und der Sprache – und vor neuer rechter Gewalt.

Tatsächlich wurde in den Beratungsgesprächen deutlich, dass das beschriebene Erstarken des Rechtspopulismus und die zunehmende pauschalisierende Abwertung bestimmter Bevölkerungsgruppen die Gefahr erhöht, Opfer einer (weiteren) Gewalttat zu werden. Gleichzeitig verringern diese Entwicklungen die Bereitschaft, Betroffenen von rechter Gewalt zu unterstützen: Ihnen wird verstärkt mit Misstrauen begegnet oder sie werden gar selbst zu Täter_innen erklärt. Dies wurde auch beim Fachtag „An der Seite betroffener rechter Gewalt“ deutlich, den LEUCHTLINIE 2017 anlässlich des Bekanntwerdens des NSU vor sechs Jahren durchführte: Die Muster, die dazu geführt haben, dass der NSU lange unentdeckt bleiben konnte sind auch heute wirksam.