In eigener Sache
20.03.18

„Empörung reicht nicht“ – Mehmet Daimagüler und Clemens Binninger im Gespräch

NSU-Opferanwalt Mehmet Daimagüler und CDU-Politiker Clemens Binninger diskutierten 02.03.2018 über den aktuellen Stand im NSU-Verfahren. Im Mittelpunkt stand die Frage, wie es nach dem offiziellen Ende der Gerichtsverhandlung mit der Aufklärung und auch der öffentlichen Auseinandersetzung rund um das Thema NSU weitergehen muss. Moderiert wurde das Gespräch, das im voll besetzten Haus der Katholischen Kirche in Stuttgart stattfand, vom Redakteur der Waiblinger Zeitung und Mitautor des Buches „Schmerzliche Heimat“ über das erste NSU-Opfer Enver Simsek, Peter Schwarz.

Zu Beginn sprachen Vertreter_innen des Katholischen Bildungswerkes, des Deutsch-Türkischen Forums Stuttgart, der Türkischen Gemeinde in Baden-Württemberg und der Beratungsstelle für Betroffene von rechter Gewalt LEUCHTLINIE jeweils kurze Grußworte zur Eröffnung der gemeinsamen Veranstaltung.

Im Anschluss daran bat Moderator Peter Schwarz die beiden Gäste Clemens Binninger und Mehmet Daimagüler nacheinander um ihre Eingangsstatements. In der Ansprache von Clemens Binninger wurde deutlich, dass der ehemalige Bundestagsabgeordnete neben seiner Arbeit in beiden vergangenen NSU-Untersuchungsausschüssen des Bundestages insbesondere auch durch seine frühere Tätigkeit als Polizeikommissar eine besondere Sichtweise auf die Vorkommnisse entwickelte. Dies zeigte sich etwa in seinen Ausführungen zur Spurenlage: Während er einerseits die Beweise gegen Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe als sehr eindeutig und erdrückend beschrieb und damit ihre Täterschaft außer Frage stellte, hegte er dennoch einige Zweifel an der vermeintlichen Eindeutigkeit der Ermittlungslagelage. An den Tatorten der 27 zugeordneten Verbrechen wurden keinerlei DNA-Spuren oder Fingerabdrücke der Dreien gefunden. Wenn jedoch von Mundlos und Böhnhardt als alleinige Täter ausgegangen werde, sei dies seiner Meinung nach nur schwer nachzuvollziehen, denn zumindest beim Mord an der Polizistin Kiesewetter fand nachweislich Körperkontakt zwischen Täter_innen und Opfern statt. Für Binninger bleibt das Fazit, dass es große Zweifel an der Trio-Theorie gibt. Um die bestehenden offenen Fragen klären zu können, müssten seiner Ansicht nach entweder neue Indizien auftauchen oder eine_r der Zeug_innen im NSU-Prozess muss das Schweigen brechen.

Mehmet Daimagüler fasste aus seinem Plädoyer als Vertreter der Nebenklage einige bedeutende Aspekte zusammen. Auch er kritisierte stark, dass noch immer an der Theorie von einer isolierten Zelle aus drei Personen festgehalten werde. Dagegen spreche etwa, dass im Prozess bereits 24 Personen zugegeben hätten, Kontakt zu den Dreien gehabt und sie mit Hilfeleistungen unterstützt zu haben. Mehmet Daimagüler erklärte, dass er die Bundesanwaltschaft in einer doppelten Rolle im Verfahren erlebte – als Anklagebehörde und gleichzeitig als Verteidiger staatlicher Interessen – und übte daran scharfe Kritik: „Jedes Mal da, wo es heikel wurde, wo es um die Rolle von Verfassungsschutzbehörden ging, hat die Bundesanwaltschaft jedem Antrag der Nebenklage Widerstand geleistet“. Zum Ende seines Statements fokussierte er den Blick auf die Handlungsmöglichkeiten jeder einzelnen Person. Dabei stellte er klar, dass Rassismusdebatten unbequem seien, sie aber dennoch geführt werden müssten: „Die Würde des Menschen ist unantastbar – die eines jeden Menschen, nicht nur des Menschen, der einen deutschen Pass hat, nicht nur des Menschen der Geld hat, nicht nur des Menschen, der christlich ist, sondern ALLER Menschen!“.

Neben Fragen, die sich kritisch mit der Vorgehensweise der Generalbundesanwaltschaft und der Behörden auseinandersetzen, wollte Moderator Peter Schwarz von Mehmet Daimagüler eine Einschätzung darüber einholen, ob und wenn Ja wie der NSU-Komplex aus seiner Sicht die deutsch-türkische Community nachhaltig geprägt habe. Der NSU-Opferanwalt hob in seiner Antwort insbesondere die positiven Aspekte hervor, wie etwa die Politisierung vieler migrantischer junger Menschen. Auch engagierte Journalist_innen, die nicht müde werden über das Thema und den Gerichtsprozess zu berichten, wie etwa „NSU Watch“, wurden von Mehmet Daimagüler als motivierend und kraftgebend beschrieben.

In der offenen Runde wurde den rund 200 Zuschauer_innen die Möglichkeit gegeben, kurze Statements abzugeben oder Fragen an die Podiumsteilnehmenden zu stellen. Dabei wurde unter anderem gefragt, wie die „staatliche Naziförderung“ durch das V-Personen-System beendet werden könne. Während sich die beiden Gäste im Laufe des Abends oftmals einig waren in ihren Kritiken und Einschätzungen, zeigte sich an dieser Frage ihre unterschiedliche Haltung ganz klar. Clemens Binninger verteidigte das V-Personen-System mit der Begründung, dass sonst die Behörden an keine Informationen über solche Vereinigungen kommen würden. Das System müsse seiner Ansicht nach jedoch mit stärkeren Kontrollen belegt werden. Im Gegensatz dazu vertrat Mehmet Daimagüler die klare Position, dass sich das V-Personen-System selbst diskreditiert habe und daher abgeschafft werden müsse.

Die Veranstaltung wurde gemeinsam von der Türkischen Gemeinde in Baden-Württemberg, der Betroffenenberatungsstelle LEUCHTLINIE, dem Deutsch-Türkischen Forum Stuttgart, dem Katholischen Bildungswerk Stuttgart e.V. und der Initiative HEIMAT – Internationale Wochen gegen Rassismus durchgeführt.