In eigener Sache
Stuttgart
28.11.16

"Wie kann es sein, dass Menschen dreimal zum Opfer werden?"

LEUCHTLINIE-Veranstaltung am 22.11.2016 im Literaturhaus Stuttgart: „5 Jahre nach der Aufdeckung des NSU“

„5 Jahre nach der Aufdeckung des NSU“ - unter dieser Überschrift lud LEUCHTLINIE in Zusammenarbeit mit dem Demokratiezentrum Baden-Württemberg am 22.11.2016 zu einer öffentlichen Diskussion nach Stuttgart ein. Namhafte und sehr sachkundige Podiumsgäste konnten für diese landesweit einmalige Erinnerungs- und Aufarbeitungsveranstaltung gewonnen werden: Thomas Heppener, Leiter des Referats „Demokratie und Vielfalt“ beim Bundesfamilienministerium, Gökay Sofuoglu, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland e.V., Andrea Schiele, Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (AsF) Baden-Württemberg und Fachkraft für Rechtsextremismusprävention, sowie Rainer Nübel, Journalist. Die Moderation übernahm der Redakteur der Waiblinger Zeitung und Kenner der rechten Szene, Peter Schwarz.

Rund 80 Zuhörer_innen aus Politik, der Zivilgesellschaft und dem Bildungsbereich fanden den Weg ins Literaturhaus in Stuttgart und nahmen Teil an einer spannenden Zwischenbilanz über die Rolle der Sicherheitsbehörden sowie der Politik bei der problematischen Aufarbeitung der Morde des  "Nationalsozialistischen Untergrunds", NSU. Außerdem thematisiert wurden in der offenen gesprächsrunde die Erfahrungen der Türkeistämmigen auf die Morde, die fehlende Solidarisierung in der Bevölkerung, sowie das Erstarken der extremen Rechten in Deutschland. Einig waren sich am Ende alle Beteiligten, dass Veranstaltungen wie diese sehr bedeutend für den weiteren Diskurs um die  NSU-Verbrechen - und letztlich für den Rechtsstaat sind.

„Der NSU geht alle an.“

In seiner Eröffnungsrede betonte der Gastgeber und Leiter der Betroffenenberatung LEUCHTLINIE, Heval Demirdögen, dass Rechtsextremismus keinesfalls nur in Ostdeutschland anzutreffen ist. „Zu offensichtlich“ seien die Verbindungen auch nach Baden-Württemberg. Außerdem setzte Demirdögen ein starkes Zeichen der Solidarität mit den Opfern. Auch fünf Jahre nach Bekanntwerden des NSU sei es im Sinne einer offenen und vielfältigen Gesellschaft notwendig, dieses Thema in der öffentlichen Wahrnehmung zu erhalten, um Rassismus und Diskriminierung weiterhin aktiv entgegenzutreten:"Der NSU geht alle Menschen an, die sich mit dieser Demokratie identifizieren - ob persönlich betroffen oder nicht, das spielt keine Rolle,“ so Demirdögen.

Als Vertreterin des LEUCHTLINIE-Beirats übernahm Manuela Rukavina vom Landesfrauenrat im Anschluss die Einführung. Pointiert veranschaulichte sie, auf welche Art und Weise man in dieser Gesellschaft Diskriminierung erfahren kann: „Ich bin eine Frau und habe einen osteuropäischen Nachnamen. Damit habe ich schon zwei potenzielle Merkmale.“ Im Beirat, in dem ganz unterschiedliche Gruppen wie die israelitische Religionsgemeinschaft Württembergs oder der Landesverband für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung e.V. vertreten sind, sei man sich drüber einig, Angriffe auf Menschen aufgrund äußerer Merkmale nicht hinzunehmen. „Bei uns ist kein Platz für rechte Gewalt“.

Der NSU - die Rolle der Behörden im „Land der Netzwerke“

Damit war das Feld eröffnet für eine Diskussion, die sich zu Beginn speziell den personellen Verbindungen des NSU nach Baden-Württemberg und der Aufarbeitung hierzulande widmete. Vielfältig seien die Verbindungen des NSU nach Baden-Württemberg gewesen, von Kontakten zur organisierten Kriminalität, über zugezogene Personen im Umkreis des „Thüringer Heimatschutzes“, bis hin zu Besuchen des NSU-Trios im Raum Ludwigsburg, so der Stern-Reporter Rainer Nübel. Andrea Schiele, Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen Baden-Württemberg betonte, dass die Rolle der Frauen im organisierten Rechtsextremismus auch im Falle des Unterstützerkreises des NSU nicht unterschätzt werden dürfe. Und die „Einzeltätertheorie“ müsse verworfen werden. Vielmehr sei man in der Szene hoch vernetzt, was besonders für das „Land der Netzwerke“ Baden-Württemberg gelte.

Viele kritische Stimmen gab es sowohl in Richtung der Sicherheitsbehörden, als auch des Untersuchungsausschusses im baden-württembergischen Landtag. Dass vom Verfassungsschutz bewusst Akten geschreddert worden sind, ist laut Rainer Nübel keine neue Erkenntnis. Nun komme es darauf an, dieses Fehlverhalten politisch und juristisch aufzuarbeiten. Dem Stuttgarter Untersuchungsausschuss traue er wenig zu, da es zu viele „Bremser“ bis hinauf ins Kanzleramt gebe. Hoffnung setzt Nübel hingegen auf einzelne  Personen beim Verfassungsschutz und bei anderen Behörden, wie etwa dem Bundeskriminalamt, auf Menschen, die „hoffentlich morgens in den Spiegel schauen und das Schweigen nicht mehr mit ihrem Gewissen vereinbaren können.“ Angesichts von Hinweisen über Einschüchterungsversuche und vorenthaltener Informationen seitens der Behörden sei er allerdings auch hier skeptisch.

„Falsche Opfer“ und Strategien gegen die gesellschaftliche Entsolidarisierung?

„Es bleibt das Gefühl, dass es in Deutschland keinen hundertprozentigen Schutz für Türkeistämmige gibt. Auch die mangelnde Solidarisierung vonseiten der Gesellschaft hat uns entsetzt“, meinte der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoglu. Die Frage, ob es schlicht die „falschen Opfer“ (Nübel) waren, bejahte Sofuoglu. „Deutschland belegt laut dem aktuellen 'Migrant Integration Policy Index' keinen sehr guten Platz im Bereich Antidiskriminierung. Institutioneller Rassismus ist überall.“

Doch was kann man dagegen tun? Einig waren sich die Diskutierenden  darüber, dass es politischer Aufklärungsarbeit gegen die gesellschaftliche Entsolidarisierung bedarf. Doch wie diese aussehen soll - darüber gingen die Meinungen auseinander. Während Thomas Heppener vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend dafür plädierte, „jeder Institution ein ordentliches Anti-Rassismus-Training zu verordnen“, nahm Andrea Schiele jede_n Einzelne_n in die Pflicht: „Wir müssen uns zunächst darüber bewusst werden, wo wir selbst ausgrenzen, denn nur so können wir verstehen, warum es andere tun. Ausgrenzen ist Teil unserer Sozialisierung.“

Der Journalist Rainer Nübel betonte außerdem die Rolle der Medien, die die Menschen wieder erreichen müssten. „Es herrscht eine Sehnsucht der Menschen nach Narrativen - nach Emotionen und Sinn. Das müssen wir  Medienschaffende erkennen und bedienen, um die Zivilgesellschaft wieder zu stärken.“ Gökay Sofuoglu forderte zudem die Migranten-Communities auf, sich verpflichtet zu fühlen, an dieser Gesellschaft teilzuhaben. Aber die Politik müsse im Gegenzug auch bereit sein, gesellschaftliche Verantwortung abzutreten. „Die Türkische Gemeinde in Deutschland sieht sich nicht mehr als Organisation ausschließlich für die Angelegenheiten der Migrant_innen, sondern als Teil der vielfältigen Gesellschaft.“

„Demokratiefeinden unter dem Deckmantel der Demokratie keine Plattform bieten“

Der Aufstieg rechtspopulistischer und extrem rechter Strömungen in Deutschland konnte beim Themenkomplex NSU selbstverständlich nicht ausgespart werden. Ob man auch mit der Alternative für Deutschland (AfD) auf politischer Ebene reden dürfe, wurde Thomas Heppener von Moderator Peter Schwarz, Journalist und Ko-Autor des Buches „Schmerzliche Heimat“, das er zusammen mit der Tochter des NSU-Mordopfers Enver Simsek, Semiya Simsek, verfasst hat, gefragt. „Es führt kein Weg daran vorbei. Allerdings ist die AfD auch nicht überall gleich. Bedingungslose Verhandlungsgrundlage muss aber das Grundgesetz sein.“ Dass man nicht immer und überall mit der AfD reden müsse, war Andrea Schiele`s Ansicht. Vor allem nicht auf Bühnen, auf denen sie sich öffentlich positionieren können. Man dürfe „Demokratiefeinden unter dem Deckmantel der Demokratie keine Plattform bieten.“ Sie sei aber durchaus dafür, mit AfD-Sympathisanten zu diskutieren, um herauszufinden, warum sie diese Partei unterstützen. „Denn das sind die Leute, die die AfD nachher wählen.“ Gökay Sofuoglu forderte vor allem die anderen Parteien auf, sich auf eine klare Linie in manchen Politikfeldern zu einigen: „Die etablierten Parteien lähmen sich selber angesichts der Frage, ob sie nun mit der AfD reden sollen oder nicht. Darüber vergessen sie, sich zu positionieren. Am Ende weiß ich als Bürger nicht, was die etablierten  Parteien zu manchen Themen sagen. Aber ich weiß, was die AfD dazu sagt.“

„Wie kann es sein, dass wir dreimal zum Opfer werden - einmal durch die Täter, einmal durch die Behörden und einmal durch die Regierung?“

Anschließend konnte auch das Publikum Fragen und Anregungen in die Runde geben. Zwei Personen, die sich als „potenzielle Opfer“ vorstellten, äußerten ihren Unmut über die fehlende Aufarbeitung der NSU-Morde. Sie wollten etwa wissen: „Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Zukunft nicht planen. Doch wo  ist die Aufdeckung der Vergangenheit vor allem in den Behörden?“. Und: „Wie kann es sein, dass wir dreimal zum Opfer werden - einmal durch die Täter, einmal durch die Behörden und einmal durch die Regierung?“. Rainer Nübel nahm die Aussagen ernst und forderte, es dürften keine neuen Kompetenzen an die Behörden verteilt werden. Hier sah er auch eine Verantwortung der Medien. „Denn bisher fehlt völlig die Korrektur der Politik am eigenen Verhalten.“

Ob man viele Menschen, die selber genug Probleme haben, mittels politischer Bildungsarbeit überhaupt erreichen könne, lautete eine weitere Publikumsfrage. Hier sah Thomas Heppener die Zivilgesellschaft in der Pflicht. Sie müsse immer wieder „Drängeln und Nachfragen“. Demgegenüber forderte ein Zuhörer, den Blick auf die Täter und diejenigen, die ihnen geholfen haben, nicht zu verlieren: „Institutionen, Politiker und Medien sollen keine Aufgaben an die Zivilgesellschaft abwälzen.“ Dem stimmte auch Andrea Schiele zu. „Es geht hier auch um Verteilungsfragen und das Gefühl, man könnte zu den Verlieren gehören. Das betrifft gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Hier sehe ich die Politik gefordert.“

Teilnehmer der Podiumsdiskussion