Pressemitteilung  
|  Baden-Württemberg  
|  2023-06-22

Baden-Württemberg: Alle vier Tage ein rechter Angriff– Jahresbilanz zeigt anhaltende Herausforderung

Die Anzahl der dokumentierten politisch rechts motivierten Angriffe steigt auch in Baden-Württemberg. Das geht aus der Statistik von LEUCHTLINIE, Fach- und Beratungsstelle für Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Baden-Württemberg, hervor. Für das Jahr 2022 registrierte LEUCHTLINIE 99 rechts-, rassistisch- oder antisemitisch motivierte Gewalttaten. Das entspricht durchschnittlich einem Angriff alle vier Tage. Die Hauptmotivation der Gewalttaten stellt Rassismus dar. Außerdem wurden vermehrt Attacken gegen queere Menschen registriert.

Der Anstieg bei den Tatbeständen Drohung und Nötigung ist vor allem auf die Erweiterung der Kategorie zurückzuführen. Durch die Änderung können auch psychische Gewalttaten, deren Folgen oft nicht weniger belastend für Betroffene sind, besser sichtbar gemacht werden. Auffällig ist, dass neben den Fällen der Nötigung und Drohung auch die Fälle schwerer Körperverletzung/versuchter Tötung zugenommen haben. LEUCHTLINIE erfasste vier Fälle von schwerer Körperverletzung, außerdem weitere 35 Körperverletzungen. Auch die Beratungen und andere Unterstützungsmaßnahmen haben zugenommen.


Rassismus wieder Haupttatmotiv

Nachdem im Jahr 2021 – im Rahmen der Covid-19 Pandemie – politische Gegner die größte Betroffenengruppe von rechten, rassistischen und antisemitischen Gewalttaten darstellten, rückte im vergangenen Jahr wieder Rassismus als Haupttatmotiv in den Mittelpunkt. Im Jahr 2022 waren 39 Angriffe, fast 40% der 99 gemeldeten rechten Gewalttaten, rassistisch motiviert. „Betroffene erfahren rassistische Gewalt nicht nur durch organisierte rechte Täter_innen, sondern auch durch Einzelpersonen, die nicht dem klassischen Bild entsprechen. Diese Gewalt ist häufig auch in weitere Rassismuserfahrungen eingebettet“, so Saime Ekin-Atik, Leiterin von LEUCHTLINIE, „Wir erleben in der Beratung, dass rassistische Tatmotivationen häufig nicht gesehen werden, wenn die Täter_innen nicht aus einschlägigen Kontexten kommen. Auch wird Betroffenen Eigenverschulden an der Gewalterfahrung zugeschrieben. Das bedeutet eine zusätzliche Belastung für die Betroffenen selbst, aber auch für andere von Rassismus betroffene Menschen. Das muss aufhören. Rassismus muss endlich als gesamtgesellschaftliches Problem wahrgenommen und entsprechend angegangen werden.“

Vier Fälle von schwerer Körperverletzung/versuchter Tötung zeigen das Gewaltpotential der Täter_innen, bundesweit wurden 17 Fälle schwerer Körperverletzungen mit einem solchen Hintergrund dokumentiert. Von den vier Taten, auf die die Fachstelle im vergangenen Jahr aufmerksam wurde, wurden zwei von so genannten „Reichsbürgern“ verübt.

„Je nach politischer Lage variiert das Ziel der Täter_innen. Das haben wir 2016, im Rahmen der Fluchtmigration, aber auch in Zeiten der Corona-Pandemie gesehen. Konstant bleiben aber die menschenverachtende Haltung gegenüber den Betroffenen, die Missachtung der demokratischen Werte sowie der kontinuierliche Anstieg der rechtsmotivierten Gewalttaten. Baden-Württemberg ist keine Ausnahme“, meint Gökay Sofuoğlu, Vorstand der Türkischen Gemeinde in Baden-Württemberg (tgbw e.V.), Träger des Projekts LEUCHTLINIE. „Diese Umstände sind zu bekämpfen. Die Politik muss ein Zeichen setzen, nicht nur Konsequenzen für Täter_innen zeigen, auch die Anerkennung der rechten Motivation der Gewalttaten ist nötig.“


Wahrscheinlich deutlich größeres Dunkelfeld

Im Jahr 2022 ging das LEUCHTLINIE-Team 256 Vorfällen nach, darunter 34 Vorfälle aus vorigen Jahren, die sich in fortlaufender Beratung befanden, und 222 neuen Vorfällen. 166 dieser Vorfälle stufte die Fachstelle als Gewalttaten ein. Von diesen Gewalttaten konnten 99 eindeutig als politisch rechts motiviert eingestuft werden. Bei zehn Vorfällen konnte eine rechte Tatmotivation ausgeschlossen werden. Im Graubereich blieben immer noch 57 Vorfälle, deren rechte, rassistische oder antisemitische Tatmotivation noch nicht ausgeschlossen werden konnte.

Unter die 166 Gewalttaten, die LEUCHTLINIE erfasste, fielen 78 Körperverletzungen (darunter 4 schwere), 67 Fälle von Nötigung/Drohung, 7 Brandstiftungen, 3 massive Sachbeschädigungen, 2 Tötungen und 9 sonstige/unklare Delikte. Es wird von einer deutlich höheren Dunkelziffer ausgegangen.


Betroffene nehmen mehr Unterstützung in Anspruch

Die Notwendigkeit einer Beratungsstelle für Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt wird durch die Vielzahl der nachgefragten Beratungen klar: Die Anzahl der Beratungsnehmenden stieg im Jahr 2022 auf 142 Menschen (2021: 124) in 119 Fällen. Auch in der Beratung spiegelt sich die Häufigkeit von Rassismus als Hauptmotivation für die Gewalttaten wider: Ein Großteil der 111 direkt betroffenen Personen in der Beratung waren Menschen mit Rassismuserfahrung.

Beratungsgespräche wurden von Betroffenen und ihren Angehörigen sowie von Zeug_innen und Unterstützer_innen 376 Mal in Anspruch genommen und somit fast 45% öfter als im Jahr zuvor. Auch die allgemeinen Unterstützungsmaßnahmen sind im Jahr 2022 im Vergleich zum Vorjahr auf fast das Doppelte gestiegen. Weitere zentrale Aspekte der Arbeit stellten die Zusammenarbeit mit anderen Stellen und Kontaktherstellung zu Rechtsanwält_innen und Psycholog_innen dar. „LEUCHTLINIE hat mich von Anfang an begleitet und unterstützt. Die Beraterin und der Berater waren sehr nett zu mir. Sie kamen für die Beratung zu mir nach Hause und wir haben viele Gespräche gehabt. Sie haben eine Anwältin und einen Dolmetscher gesucht und später haben sie mir auch geholfen, als ich eine neue Wohnung suchen musste und KiTa-Plätze für meine Kinder brauchte. Einmal hat die Beraterin mich zur Polizei begleitet. Das war sehr gut“, sagt eine Beratungsnehmerin, die fast ein Jahr lang von ihrem Nachbarn rassistisch beleidigt und mit Mord bedroht wurde.


Die Arbeit mit Betroffenen

LEUCHTLINIE berät, informiert, begleitet und unterstützt Betroffene von rechten, rassistischen und antisemitischen Straf- und Gewalttaten und deren Angehörige sowie Zeug_innen. Seit 2016 unterhält die Beratungsstelle ein Büro in Stuttgart, seit 2021 einen weiteren Standort in Freiburg. Die Beratung ist kostenlos, vertraulich, parteilich und auf Wunsch auch anonym. Beraten wird in Präsenz, Online, per Telefon und neuerdings per Chat über die App SupportCompass. LEUCHTLINIE ist eine Fachstelle im Demokratiezentrum Baden-Württemberg und ein Projekt der Türkischen Gemeinde in Baden-Württemberg e.V. (tgbw). Die Beratungsstelle wird gefördert durch das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und durch das Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg aus Mitteln, die der Landtag von Baden-Württemberg beschlossen hat.

Beratung und Auskunft: kontakt@leuchtlinie.de

Hilfe für Betroffene von rechter Gewalt

Für alle, die von rechter Gewalt direkt betroffen sind oder Zeugin und Zeuge einer solchen Tat werden, gibt es in Baden-Württemberg die Anlaufstelle LEUCHTLINIE!

Wir beraten anonym, kostenlos, vertraulich. Auch in Deiner Nähe.

Beratungshotline:
0711 / 888 999 33

Dienstag – Donnerstag: 10 – 17 Uhr

E-Mail: kontakt@leuchtlinie.de
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Internet: www.leuchtlinie.de

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