Zehn Jahre liegt die Selbstenttarnung des rechtsterroristischen, so genannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) nun zurück. In den Jahren 2000 bis 2007 töteten die Extremisten zehn Menschen, davon neun Männer mit Migrationshintergrund und eine Polizistin. Erst die Selbstenttarnung machte offensichtlich, wie groß das Ausmaß rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Deutschland werden konnte und wie vernetzt die rechtsextreme Szene in Deutschland ist.
Die Perspektiven der Betroffenen und Angehörigen wurden bei den Ermittlungen nicht gehört und nicht berücksichtigt. Stattdessen wurden die Hinterbliebenen durch von rassistischen Vorurteilen geprägten Verdächtigungen und Anschuldigungen gegen sie selbst, aber auch gegen die Ermordeten, zusätzlich belastet. Eine für die Hinterbliebenen wichtige, angemessene Aufklärung der hinter den Taten stehenden Strukturen fand bis heute nicht statt. Es wurden Dokumente durch Mitarbeiter*innen der Polizei vernichtet und die Erkenntnisse des Hessischen Untersuchungsausschusses für die Öffentlichkeit gesperrt.
In Reaktion auf die Missachtung der Betroffenenperspektive wurden in allen Bundesländern Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt eingerichtet. In Baden-Württemberg wurde 2016 die Beratungsstelle LEUCHTLINIE eröffnet, in Trägerschaft der Türkischen Gemeinde in Baden-Württemberg e.V. (tgbw).
Das Ziel von LEUCHTLINIE ist es, Betroffene zu unterstützen – und dazu gehört in erster Linie auch heute: ihre Perspektive zu hören und ihr Sichtbarkeit zu geben. Auch 10 Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU müssen Betroffene von rechter, rassistischer oder antisemitischer Gewalt kämpfen. Sie kämpfen um die Anerkennung der spezifischen Tatmotivation und um Ressourcen zur Verarbeitung der Gewalttaten.
Dieser Kampf beginnt bereits bei der Aufnahme des Geschehenen durch die Polizei. Häufig muss zuerst um eine Einordnung der Tat als „Politisch Motivierte Kriminalität – Rechts“ (PMK-R) gekämpft werden. Findet diese Einordnung zu Beginn der polizeilichen – und damit juristischen – Aufarbeitung nicht statt, ist es für die Betroffenen fast unmöglich, im weiteren Verlauf als Betroffene von rechter, rassistischer, antisemitischer Gewalt Anerkennung zu erfahren. Diese Anerkennung ist u.a. nötig, um in Gerichtsverfahren und in der Entschädigung der Betroffenen diese spezielle Form der Gewalterfahrung zu berücksichtigen.
Um die Formen und Auswirkungen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt besser zu erkennen und die davon Betroffenen zu unterstützen, braucht es strukturelle Änderungen in staatlichen Behörden:
- Polizeiarbeit: Es braucht eine unabhängige Polizeibeschwerdestelle, die mit so viel Macht ausgestattet ist, dass sie wirksam auf Polizeiarbeit im Sinne der Betroffenen rassistischer Gewalt Einfluss nehmen kann. In den Ausbildungen der Polizist*innen müssen die Themen Rassismus-Sensibilität und -Kritik sowie Antidiskriminierung in viel größerem Umfang behandelt werden. Dies darf nicht nur Wissensvermittlung umfassen, sondern auch Arbeit an der eigenen Haltung und der individuellen Erarbeitung angemessener Handlungsoptionen im Polizeialltag. Es ist außerdem erforderlich, die laufende Auseinandersetzung mit den Themen Rassismus und Diskriminierung fest in Maßnahmen zur Qualitätsverbesserung der Polizeiarbeit zu verankern (z.B. Supervision). Es braucht eine größere Transparenz darüber, wie diese qualitätsverbessernden Maßnahmen stattfinden. Mehr Transparenz braucht es auch in Bezug auf Maßnahmen, die das Risiko von racial profiling erhöhen. Damit verbunden ist die Notwendigkeit für eine explizite Studie zu Racial Profiling und Rassismus bei den Polizeibehörden des Bundes und der Länder, um das Ausmaß des Problems zu vermessen sowie wirksame Gegenmaßnahmen einzuleiten.
- Gerichtsverfahren: Es ist erforderlich, durch gesetzliche Regelungen festzuschreiben, dass Staatsanwaltschaften mit rechten Gewalttätern keine Deals absprechen können ohne Mitsprache der Betroffenen der Gewalttaten in ihrer Rolle als Nebenkläger*innen.
Eine zukünftige Bundesregierung muss durch ein Demokratiefördergesetz sicherstellen, dass die Arbeit der Beratungsprojekte und ihrer Kooperationspartner*innen im Bund und den Ländern dauerhaft abgesichert ist.
Gemeinsam mit dem Verband der Beratungsstellen für Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, VBRG e.V., fordert LEUCHTLINIE außerdem:
- Überlebende, Hinterbliebene und Verletzte schwerer rechtsterroristischer, rassistischer und antisemitischer Gewalttaten benötigen eine neu zu schaffende, unbürokratische Grundrente mit einer adäquaten Existenzsicherung. Derzeit werden noch immer viele Überlebende und Hinterbliebene wie etwa in Hanau durch bürokratische Hürden insbesondere der Landesversorgungsämter in Armut und soziale Erniedrigung gedrängt.
- Das Bundesjustizministerium und die Justizminister*innenkonferenz müssen durch entsprechende gesetzliche Regelungen oder Änderungen in den Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) dafür sorgen, dass Staatsanwaltschaften ohne explizites Einverständnis von Nebenkläger*innen keine schmutzigen Deals mehr mit Neonazi-Gewalttätern – wie etwa im Ballstädt-Prozess in Thüringen – machen können.
- Eine Erweiterung des Opferschutzes im Aufenthaltsgesetz ist überfällig. Dafür muss die zukünftige Bundesregierung ein Gesetzesvorhaben für ein humanitäres Bleiberecht für Betroffene rassistischer Gewalt ohne festen Aufenthaltsstatus auf den Weg bringen – durch eine Erweiterung von Paragraf 25AufenthG. Es kann nicht sein, dass Täter*innen profitieren, weil abgeschobene Opfer nicht mehr als Zeug*innen in Strafverfahren aussagen können.
Eine dauerhafte Absicherung der Arbeit von Beratungsstellen wie den Opferberatungsstellen, Mobilen Beratungsteam und der Antidiskriminierungsberatung ist ein wichtiges Zeichen der Solidarität des Staates mit den Betroffenen von Antisemitismus, Rassismus, Diskriminierung und Rechtsextremismus.
Die gesamten Forderungen des VBRG e.V. finden Sie HIER.